Über das Projekt

Über das Projekt

Die deutschbaltische Kultur ist ein wesentlicher, aber gern vergessener und oft verschwiegener, lange Zeit auch verpönter Teil der Kultur und Geschichte Estlands und Lettlands gewesen. Die Anerkennung der Deutschbalten als Teil der estnischen Kultur ist für das Verständnis dieser Kultur und für eine genauere Wahrnehmung des Gesamtbildes unerlässlich.

In den letzten Jahrzehnten ist erfreulicherweise ein wachsendes Interesse am deutschbaltischen Kulturerbe zu beobachten. Dabei wird jedoch eher in die fernere Vergangenheit geblickt – denn nach der gängigen und verbreiteten Vorstellung verließen die Deutschbalten Estland und Lettland mit der Umsiedlung 1939 und beendeten damit ihre Geschichte, zumindest die in der „baltischen Heimat“. Auch die Nachumsiedlung und ihre näheren Umstände sind erst in den letzten Jahren ins breitere Bewusstsein gerückt. Das Wissen darüber, was danach geschah oder dass sich die deutschbaltische Geschichte eigentlich fortgesetzt hat, ist vielleicht auch zu sehr mit der Zeitgeschichte bzw. Gegenwart verbunden gewesen. Doch die Zeit ist vergangen, auch die Wendejahre um 1990 sind bereits Geschichte, erst recht die Nachkriegsperiode.

Nach allgemeiner Auffassung verließen die Deutsch-Balten Estland und Lettland 1939, und ihre Geschichte war damit zu Ende. Aber war das wirklich der Fall? Bei weitem noch nicht.

Das vom estnischen Kultusministerium finanzierte Forschungsprojekt „Heimat Revisited. Baltische Überlebenskünste – deutschbaltische Kindheitserfahrungen und Heimatrekonstruktionen“ ermöglicht die Fortsetzung der 2024 begonnenen Forschungsarbeit für die Zeit von 2025 bis 2027. Die im November 2024 an der Universität Tartu veranstaltete Tagung “Heimat Revisited I.” war als erstes anregendes Treffen gedacht, bei dem verschiedene Berührungspunkte der Tätigkeitsbereiche und Quellen beleuchtet wurden.

Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Universität Tartu und des Estnischen Nationalmuseums konzentriert sich nun auf ein bisher systematisch unerforschtes Themengebiet: das Schicksal der baltischen Deutschen, die während der Umsiedlungen 1939-1941 bzw. erst um 1944 Estland und Lettland verließen, und die Beziehung zu ihrer ehemaligen und neuen Heimat, zu ihren Angehörigen und ihrer Gemeinschaft, zu ihren ehemaligen und neuen Landsleuten. Man möchte untersuchen, wie die aus der Heimat mitgenommenen Traditionen und das Gedankengut das Überleben und die Orientierung in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts beeinflussten. Es werden Ausdrucksformen wie die der Heimat-Sehnsucht, Praktiken des Wiedererlebens und Weitergebens der Heimat an die nächsten Generationen, Kontaktstrategien gegenüber der ehemaligen Heimat und Landsleuten, Reflexionen und Darstellungen untersucht, wobei Vergleiche mit den estnischen und lettischen Exilgemeinschaften gezogen werden – auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Was geschah danach? Und wie hängt das mit uns heute zusammen?

Neben der Arbeit mit Archivquellen und gedruckten Materialien sind die unmittelbaren Erfahrungen der Einzelpersonen von großer Bedeutung. So möchten wir Interviews mit Personen führen, die als Kinder aus dem Baltikum umgesiedelt wurden – was zeitkritisch ist – und mit ihren Nachkommen, um Antworten auf die Fragen zu finden: Wie wird die eigene Herkunft wahrgenommen und wie gestaltet sich diese Beziehung am persönlichen Beispiel oder innerhalb der Generationen? Wie hat der „Rucksack“, der aus dem Baltikum mitgenommen wurde, das Überleben, die Lebens- und Welteinstellung beeinflusst? Wie werden die Umgebung, der familiäre und weitere soziale Kreis, alltägliche Praktiken und die Möglichkeiten zur Wertevermittlung (Erziehung, Aktivitäten, Traditionen, Bräuche, Organisation und Kontakte, zur Heimat oder zu Landsleuten verschiedener Nationalitäten in verschiedenen Ländern, Reisen in die ehemalige Heimat zu verschiedenen Zeiten, Literatur, Kunst, Spiele, Sprache, Getränke und Speisen) wahrgenommen?

Das Team des Forschungsprojektes „Baltische Überlebenskünste – deutschbaltische Kindheitserfahrungen und Heimat Revisited “ (Reet Bender, Olev Liivik, Anu Kannike, Ester Bardone, Kadi Kähär-Peterson und Heidi Rajamäe-Volmer sowie Tartuer Studierende) hofft, eine Brücke in die Zukunft zu bauen und das Bewusstsein und Verständnis für die gemeinsame Kultur der Deutschbalten, Esten und Letten zu fördern. Es wäre uns eine große Freude, wenn Sie bereit wären, uns Ihre Lebensgeschichte oder Erinnerungen mitzuteilen, oder ggf. diejenigen von unserem Vorhaben informieren könnten, deren Geschichte erzählt oder dokumentiert werden sollte.

Zentrum für deutschbaltische Forschungen

Das Projekt wird vom Zentrum für Deutschbaltische Forschungen (est.: „Baltisaksa uuringute keskus“) koordiniert, das am Institut für Fremdsprachen und Kulturen der Universität Tartu, Abteilung für Germanistik 2025 gegründet und angesiedelt wurde. Das Zentrum wurde ins Leben gerufen, um die deutschbaltische Kultur, Sprache und Geschichte zu erforsche.

In der Gestaltung der Webseite sind Elemente aus dem 1935 entstandenden Reisespiel “Rund um Estland” von Oswald Hartge zu sehen.  

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